Das europäische Netzwerk für die Regulierung von Arzneimitteln ist ein weltweit einzigartiges Modell für die Versorgung von mehr als 500 Millionen Menschen in Europa und mit Zugriff auf Tausende von Expertinnen und Experten. Das Netzwerk besteht aus den nationalen Arzneimittelzulassungsbehörden, den „Heads of Medicines Agencies (HMA)“, die mit der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zusammenarbeiten. Künftiger Schwerpunkt wird die Beschleunigung der Zulassungsverfahren sein – auch durch den Einsatz künstlicher Intelligenz.
Gegründet wurde der Zusammenschluss der nationalen Zulassungsbehörden für Human- und Tierarzneimittel im Europäischen Wirtschaftsraum, abgekürzt HMA, im Jahr 1995. Die HMA befasst sich mit wichtigen strategischen Fragen, gewährleistet Konsistenz in der EU und tauscht sich zu bewährten Verfahren aus. Dabei ist die Arbeit von einer gemeinsamen Vision geprägt: dem schnellen Zugang zu sicheren und wirksamen Arzneimitteln für die Menschen in der EU.
Die HMA arbeitet dabei in und mit der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und kann auf Ressourcen und Fachwissen aus ganz Europa zurückgreifen. Dieses Fachwissen wird in die Ausschüsse der EMA eingebracht, wo es um die Bewertung neuer Arzneimittel oder deren Überwachung geht. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Regulierung von Arzneimitteln den höchsten wissenschaftlichen Standards entspricht.
„Unsere Arbeitsweise und das regulatorische Umfeld haben sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Wir erleben im Netzwerk eine Dynamik, die wir bisher nicht kannten“, sagt Prof. Dr. Karl Broich. Er ist Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Mitglied der HMA und seit 2019 deren Vorsitzender. „Die Digitalisierung hat zum Beispiel durch die Coronapandemie enorm an Bedeutung gewonnen. Wir haben erlebt, wie sehr es in Europa darauf ankommt, gemeinsam zu handeln und dazu auch auf gemeinsame Daten und Netzwerke zugreifen zu können.“ Die Gesellschaft entwickele sich weiter, und das gälte auch für die HMA, so Broich: „Wir haben uns in gemeinsamen Lessons-Learned-Workshops intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich das Netzwerk aufstellen und verändern muss, um zukunftsfähig zu sein. Für die immer komplexer werdenden Produkte und Technologien müssen die notwendigen Kompetenzen und Ressourcen aufgebaut werden.“ Klar sei auch, dass die regulatorischen Prozesse beschleunigt und vereinfacht werden sollen, wo immer dies möglich ist, ohne die Qualität zu beeinträchtigen.
Künstliche Intelligenz wird einen großen Teil des Umfelds verändern, in dem wir heute arbeiten, und sie wird auch das Gesundheitswesen und die Entwicklung neuer Behandlungen verändern.
Dr. Björn Eriksson, Director General der schwedischen Arzneimittelbehörde
Hier kommt auch die Künstliche Intelligenz (KI) ins Spiel. Dr. Björn Eriksson, Director General der schwedischen Arzneimittelbehörde (MPA), ist sich sicher: „Künstliche Intelligenz wird einen großen Teil des Umfelds verändern, in dem wir heute arbeiten, und sie wird auch das Gesundheitswesen und die Entwicklung neuer Behandlungen verändern.“ Eriksson agiert seit 2023 als Vize-Vorsitzender der HMA.
Er plädiert beim Einsatz von KI für eine starke Rolle der europäischen Regulierungsnetzwerke: „Europa wird in Bezug auf Agilität und Geschwindigkeit mit anderen Regulierungsbehörden weltweit gemessen. Wir müssen Anreize bieten und uns entsprechend positionieren, um die EU als attraktiven Raum für medizinische Innovationen zu präsentieren.“
Die schwedische Behörde hat schon 2020 begonnen, aktiv mit KI zu arbeiten. Gleichzeitig schreitet der Einsatz von KI in der Medizintechnik weiter voran, beispielsweise in diagnostischen Disziplinen wie der Radiologie. „Die Entwicklung ist rasant, und wir brauchen komplexe Systeme und qualifizierte Menschen, um die Chancen und Risiken der KI zu verstehen“, betont Eriksson. „Hierbei ist sektorenübergreifendes Fachwissen gefragt, also eben nicht nur reine KI-Expertise. Es geht daher auch darum, unsere eigenen Leute entsprechend zu schulen.“
Den Expertenpool zu erweitern, ist ein Anliegen, das die HMA aktiv vorantreibt. So haben HMA und EMA im Mai 2023 ein Pilotprojekt gestartet, das sich an Onkologinnen und Onkologen richtet. Ihnen werden in einem eigens erstellten Programm regulatorische Grundlagen vermittelt, damit sie ihr Wissen ganz gezielt in die Arzneimittelbewertung einbringen können. Ein Projekt, das in ähnlicher Form auch für den KI-Einsatz denkbar ist.
„In vielen Bereichen unserer Arbeit ist die Kluft zwischen Entwicklern und Anwendern eine große Herausforderung“, erklärt Eriksson. „Als HMA wollen wir im Netzwerk dazu beitragen, diese Kluft zu überwinden. Besonders, wenn es um innovative Therapien geht, die schnell zur Verfügung gestellt werden sollen.“ Das Potenzial für den Einsatz künstlicher Intelligenz in der Arzneimittelregulation sei groß und der Zeitpunkt günstig: „Die KI ist in der öffentlichen Diskussion angekommen und die Menschen sehen in ihrem Alltag konkrete Anwendungsbeispiele.“
Bei der Anwendung von KI liegt ein besonderer Fokus auf der Analyse von großen Datenmengen. Die Entwicklungen insbesondere bei der Datenanalyse haben deutlich an Dynamik gewonnen. Grundlage solcher Analysen ist die Standardisierung von Daten. Sie ist Voraussetzung dafür, damit diese auch EU-weit einheitlich und intelligent genutzt werden können.
Gemeinsam mit der EMA hat die HMA daher die Datenbank „Data Analytics and Real World Interrogation Network“ (DARWIN EU) eingerichtet, in der sogenannte „Daten aus der realen Welt“ (RWD) gesammelt werden. Diese stammen nicht aus klinischen Studien, sondern aus dem medizinischen Versorgungsalltag und werden beispielsweise von Krankenkassen oder Pflegekräften erhoben. Für die regulatorischen Entscheidungsfindungen werden diese Daten immer wichtiger. Die daraus generierte Evidenz kann sowohl für die Einschätzung der Wirksamkeit eines Arzneimittels als auch für Phasen vor und nach der Zulassung relevant sein.
Durch DARWIN EU wird ein ganzes Netzwerk aus Gesundheitsdatenquellen aufgebaut. Ziel ist es, wissenschaftliche Analysen zu regulatorischen Fragestellungen sicher und datenschutzkonform durchführen zu können.
Der Einsatz neuer Technologien und die aus Big Data gewonnenen Erkenntnisse werden die Arzneimittelentwicklung beschleunigen und einen früheren Zugang zu neuen Therapien ermöglichen.
Prof. Karl Broich, Co-Chair des DARWIN EU Advisory Board
„Mit dem Forschungsnetzwerk werden auch Studien initiiert, um Erkenntnisse mit RWD zu sammeln. Wir werden damit die Datenanalyse bei der Bewertung von Arzneimitteln weiter verbessern“, erklärt Prof. Broich, der auch Co-Chair des DARWIN EU Advisory Board ist. „Der Einsatz neuer Technologien und die aus Big Data gewonnenen Erkenntnisse werden der öffentlichen Gesundheit zugutekommen, indem sie die Arzneimittelentwicklung beschleunigen und einen früheren Zugang zu neuen Therapien ermöglichen.“
Das HMA-Netzwerk ist sich der Notwendigkeit von Veränderungen bewusst – mehr noch, es ist bestrebt, sich zu verändern, um seine Mission noch besser zu erfüllen: einen Mehrwert für alle unsere Interessengruppen zu schaffen, insbesondere für die Patientinnen und Patienten in Europa.