Regulatorische Expertise auf der einen, akademisch-klinisches Fachwissen auf der anderen Seite: Bringt man dieses Know-how in Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel zusammen, profitieren Menschen mit Erkrankungen. In einem Pilotprojekt haben jetzt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der klinischen Onkologie die Chance, an der Arzneimittelbewertung mitzuwirken. Das BfArM ist dabei als Impulsgeber an vielen Stellen beteiligt.
Wer in der EU ein Arzneimittel zulassen möchte, stellt dazu einen Antrag bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA). Dort werden die Unterlagen im Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) wissenschaftlich bewertet. Im Ausschuss kommen etwa 60 Expertinnen und Experten zusammen. Sie stammen zumeist aus den nationalen Zulassungsbehörden, die über das Netzwerk der Leiterinnen und Leiter der europäischen Zulassungsbehörden (HMA) miteinander verbunden sind.
Rund um die Antragsbewertung arbeiten die Mitgliedstaaten in unterschiedlichen Konstellationen an der Vorbereitung der Entscheidungen. Dazu werden in den nationalen Zulassungsbehörden Daten und Unterlagen der Antragsteller gesichtet und sorgfältig ausgewertet, Empfehlungen für oder gegen die Zulassung eines Arzneimittels ausgearbeitet und schließlich den Ausschussmitgliedern zur Diskussion vorgelegt. Am Ende steht dann die offizielle Empfehlung des CHMP, während die formale Zulassung durch die EU-Kommission erteilt wird.
Besondere Herausforderungen
Vorsitzender des CHMP ist PD Dr. Harald Enzmann, Leiter der Stabsstelle „EU und Internationales“ im BfArM. Er gehört dem multinationalen Ausschuss seit 15 Jahren an und weiß um die Bedeutung der wissenschaftlichen Expertise bei der Beurteilung der Zulassungsanträge. „Experten mit Fachkenntnissen oder klinischer Erfahrung werden häufig während der Bewertung konsultiert, um die wissenschaftliche Diskussion zu bereichern“, berichtet Enzmann. „Die Bandbreite reicht dabei von konkreten Fragen zur potenziellen Anwendung in der klinischen Praxis bis hin zur neuesten Studienlage.“
In diesem Prozess gibt es besondere Herausforderungen. Ein Beispiel sind onkologische Krankheitsbilder, bei denen der Zugang zu innovativen Arzneimitteln die Heilungschancen verbessern oder das Überleben verlängern kann. Hier gilt es entsprechend, den Patientinnen und Patienten einen schnellen Zugang zu diesen Therapeutika zu ermöglichen. Dazu ist das Wissen um neue wissenschaftliche Ansätze wichtig, wie es sie in der akademisch-klinischen Forschung gibt. Gleiches gilt auch für die Besonderheiten bei der Versorgung bestimmter Erkrankungen. „Dieses Wissen soll in unsere Antragsbewertungen einfließen“, so der CHMP-Vorsitzende.
STARS
Auf diese Weise die regulatorische Arbeit mit der klinisch-wissenschaftlichen Forschung zu verbinden, ist ein wichtiges Anliegen der Akteure auf nationaler und europäischer Ebene. So wurde die EU-finanzierte Initiative „STARS – Strengthening Training of Academia in Regulatory Science“ ins Leben gerufen. Sie zielte darauf ab, regulatorisches Wissen im akademischen Forschungsumfeld zu stärken und die klinische Forschung besser für die Gesundheitssysteme nutzbar zu machen. Das BfArM hatte sich hierbei als einer der koordinierenden Projektpartner beteiligt. Insgesamt wirkten Zulassungsbehörden aus 18 europäischen Ländern an dem Projekt mit. Diese arbeiten nun an der Implementierung der Strategien und Erfahrungen aus STARS.
Bei dem Ziel, solche Initiativen und Projekte EU-weit auf den Weg zu bringen, spielt das BfArM gleich an mehreren Stellen eine wichtige Rolle. So kennt BfArM-Präsident Prof. Dr. Karl Broich die Thematik aus Sicht des BfArM als der größten nationalen Zulassungsbehörde in der EU und auch in seiner Funktion als Vorsitzender der HMA: „Neue wissenschaftliche Ansätze zu innovativen Arzneimitteln werden häufig in der akademisch-klinischen Forschung konzipiert“, erklärt Prof. Broich. „Als HMA sehen wir, dass es in vielen EU-Mitgliedstaaten einen Bedarf gibt, den Dialog zwischen akademisch-klinischer Forschung und nationalen Arzneimittelbehörden zu fördern. Dabei geht es darum, gemeinsam über regulatorische Aspekte zu sprechen und gleichzeitig etwaige Informationslücken in der Arzneimittelentwicklung zu schließen.“ Gemeinsam mit der EMA suche man daher nach Wegen und Potenzialen, die genutzt werden können. So entstand die Idee, ganz gezielt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der klinischen Onkologie aus der gesamten EU anzusprechen und für diese Zusammenarbeit zu gewinnen.
Kein anderer Bereich zeigt derart viele neue Wirkmechanismen und Wirkstoffklassen wie die onkologischen Indikationsgebiete.
PD Dr. Harald Enzmann, Vorsitzender des CHMP
Pilotprojekt Onkologie
Vor diesem Hintergrund haben HMA und EMA im Mai 2023 ein entsprechendes Pilotprojekt gestartet, das sich an Onkologinnen und Onkologen richtet. Es wird über einen Zeitraum von zwölf Monaten eingeführt. Der Schwerpunkt liegt auf der wissenschaftlichen Beratung und der Beurteilung von Zulassungen für Humanarzneimittel. Unter anderem durch gezielte Schulungsprogramme soll die regulatorische Kompetenz der akademisch-forschenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gestärkt werden. Hierzu wurde ein Curriculum entwickelt, das neben den regulatorischen Grundlagen ganz gezielt onkologische Aspekte adressiert.
Dieser Ansatz ist dem CHMP-Vorsitzenden besonders wichtig, der selbst gleich für mehrere Themen als Referent agiert. „Das Pilotprojekt bietet uns sehr gute Möglichkeiten. Wir können jetzt schon sagen, dass der Trend bei den zentralen Zulassungsanträgen, die bei der EMA eingereicht werden, in den kommenden Jahren ganz klar in onkologischen Indikationsgebieten liegt“, betont Enzmann. „Kein anderer Bereich zeigt derart viele neue Wirkmechanismen und Wirkstoffklassen.“
Für alle Beteiligten sei dies eine Win-win-Situation: „Als Regulatoren vermitteln wir den Expertinnen und Experten die Grundprinzipien, die für die onkologischen Fachgebiete relevant sind. Damit geben wir ihnen Grundlagen, um ihr Wissen ganz gezielt in die Arzneimittelbewertung einbringen zu können.“ Grundsätzlich seien HMA und EMA auf eine enge Arbeitsbeziehung zu Akademikerinnen und Akademikern sowie Forschenden angewiesen: „Wir müssen in der Arzneimittelzulassung auf künftige Herausforderungen und Chancen vorbereitet sein, die sich aus den Fortschritten in Wissenschaft und Technologie ergeben“, betont Enzmann. „Besonders, wenn es um innovative Therapien geht, die den Patientinnen und Patienten schnell zur Verfügung gestellt werden sollen.“
PD Dr. Harald Enzmann
Der promovierte und habilitierte Mediziner ist seit 2005 Mitglied des Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittel-Agentur. 2016 wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden des CHMP gewählt. Seit 2018 ist er Vorsitzender des Gremiums und wurde im September 2021 einstimmig für eine zweite Amtszeit wiedergewählt.
Im BfArM ist er seit 2002 tätig. Hier leitete er unter anderem die Abteilung „Arzneimittelzulassung“. Seit 2016 ist er Leiter der Stabsstelle „EU und Internationales“.
Enzmann ist Fellow der International Academy of Toxicologic Pathology, Mitglied der European Society of Toxicologic Pathology, der Society of Toxicology und der European Association for Cancer Research.
Heads of Medicines Agencies (HMA)
Die Heads of Medicines Agencies (HMA) ist ein Netzwerk der Leiterinnen und Leiter der nationalen Zulassungsbehörden für Human- und Tierarzneimittel im Europäischen Wirtschaftsraum. Die HMA arbeitet im Netzwerk für Europäische Arzneimittelzulassung mit der Europäischen Arzneimittel-Agentur und der Europäischen Kommission zusammen. Sie ist ein einzigartiges Modell für die Kooperation und Arbeitsteilung in regulatorischen Angelegenheiten sowohl auf gesetzlicher als auch auf freiwilliger Ebene.
Die HMA wird von der Management Group koordiniert und geleitet und von verschiedenen Arbeitsgruppen – verantwortlich für unterschiedliche Bereiche – sowie dem Ständigen Sekretariat unterstützt. Der Präsident des BfArM, Prof. Karl Broich, ist Mitglied und derzeit Vorsitzender der HMA Management Group. Darüber hinaus arbeiten zahlreiche Expertinnen und Experten des BfArM in den Arbeitsgruppen der HMA.