Treten bei einem Arzneimittel unerwünschte Wirkungen auf, greifen auf EU-Ebene Mechanismen zur Risikominimierung. Das BfArM bringt dazu seine Expertise in den Gremien der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) ein. Dass hier auch langanhaltender Einsatz gefragt ist, zeigt das Beispiel Fluorchinolone: Nachdem teils irreversible Nebenwirkungen bei der Anwendung auftraten, ließ das BfArM diese Antibiotika immer wieder auf den Prüfstand stellen. Mit Erfolg.
Neue Erkenntnisse über die Sicherheit von Arzneimitteln können sich über den gesamten Lebenszyklus eines Medikamentes und so auch noch lange Zeit nach der Zulassung ergeben. Ein wesentliches Instrument, mögliche Arzneimittelrisiken zu identifizieren, ist die engmaschige Auswertung von Verdachtsmeldungen zu Nebenwirkungen. Ergibt sich ein Risikosignal für ein Arzneimittel, das in mehreren oder allen EU-Mitgliedstaaten zugelassen ist, werden auf europäischer Ebene Verfahren zur näheren Bewertung solcher Signale eingeleitet.
Dann kommt Dr. Martin Huber zum Einsatz. Er ist stellvertretender Vorsitzender des PRAC, dem Ausschuss der EMA für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz. Der PRAC arbeitet an der Ermittlung, Bewertung, Minimierung und Kommunikation von Arzneimittelrisiken. Am Ende des Verfahrens gibt der Ausschuss eine Empfehlung dazu ab, was mit dem Arzneimittel weiter geschehen soll.
Fluorchinolone: hochwirksam, aber nicht ohne Risiko
Die Arzneimittel aus der Gruppe der Fluorchinolone haben den PRAC über mehrere Jahre beschäftigt. Bei den Fluorchinolonen handelt es sich um synthetische Antibiotika, die ein breites Wirkspektrum besitzen. Sie sind schon seit Jahrzehnten im Gebrauch und spielen eine wichtige Rolle bei der Behandlung von schwerwiegenden bakteriellen Infektionen. Neben der antibiotischen Wirkung wurden jedoch auch schwerwiegende Nebenwirkungen beobachtet. Diese können im schlimmsten Fall dauerhaft sein. So wurden Entzündungen, Risse der Sehnen, Schwierigkeiten beim Sehen oder Depressionen beschrieben.
Da ein Teil der beobachteten Nebenwirkungen langanhaltend und unter Umständen dauerhaft sein kann, veranlasste das BfArM Anfang 2017 ein europäisches Risikobewertungsverfahren zu den Fluorchinolonen. Ziel einer solchen Risikobewertung ist, zu überprüfen, ob der Nutzen eines Arzneimittels die Risiken weiterhin überwiegt. Dies geschieht auf Grundlage der Verdachtsmeldungen zu Nebenwirkungen. Zudem werten die Fachleute die aktuelle wissenschaftliche Literatur und weitere verfügbare Daten aus.
Weitreichende Anwendungsbeschränkungen
Infolge dieses Verfahrens sprach der PRAC 2018 klare Empfehlungen aus. Martin Huber: „Für die Fluorchinolone gab es weitreichende Einschränkungen der Anwendungsbereiche; einigen Wirkstoffen wurde sogar die Zulassung entzogen. Außerdem haben wir die Zulassungsinhaber verpflichtet, ihre Produktinformationen zu aktualisieren, damit diese Auskunft über die Einschränkungen der zugelassenen Anwendungsgebiete und über die Anwendungsrisiken geben.“
Die Angehörigen der Gesundheitsberufe wurden mit einem sogenannten Rote-Hand-Brief über die Erkenntnisse und Empfehlungen des Verfahrens informiert. Dabei handelt es sich um ein wichtiges Informationsmedium für Angehörige der Heilberufe, das über neu identifizierte, bedeutende Arzneimittelrisiken und Maßnahmen zur Risikominimierung aufklärt. Im Fall der Fluorchinolone war zuvor bereits ein anderer Rote-Hand-Brief herausgegangen, der gezielt über das Risiko informierte, dass Aortenaneurysmen und -dissektionen auftreten können. Ein weiterer Rote-Hand-Brief folgte im Oktober 2020, um auf das Risiko einer Herzklappenregurgitation/ -insuffizienz aufmerksam zu machen.
Dass Fluorchinolone teils schwerwiegende Nebenwirkungen mit sich bringen, ist schon länger bekannt. In der Öffentlichkeit wird daher kritisch hinterfragt, warum diese Antibiotika trotzdem überhaupt noch eingesetzt werden dürfen. „Diese Frage ist absolut nachvollziehbar“, so Martin Huber. „Man muss jedoch wissen, dass Fluorchinolone hochwirksame Antibiotika mit breitem Wirkspektrum sind. In der Praxis können sie eine letzte Behandlungsoption darstellen und damit Leben retten. Zum Beispiel, wenn andere Antibiotika nicht wirken oder Bakterien gegenüber anderen Antibiotika Resistenzen ausgebildet haben.“ Ärztinnen und Ärzte müssen daher im konkreten Behandlungsfall abwägen, ob der Nutzen gegenüber den Risiken einen Einsatz fluorchinolonhaltiger Arzneimittel rechtfertigt.
Die Studie zeigt, dass Fluorchinolone noch immer außerhalb ihrer empfohlenen Anwendungsgebiete verschrieben werden.
Dr. Martin Huber, stellvertretender Vorsitzender PRAC
Verordnungsverhalten unter der Lupe
Unter den Antibiotika waren die in Deutschland noch zugelassenen Fluorchinolone im Jahr 2021 mit rund zwölf Millionen definierten Tagesdosen die viertstärkste Wirkstoffklasse. Dabei sollen Fluorchinolon-Antibiotika nur innerhalb der zugelassenen Indikationen und nach sorgfältiger Abwägung von Nutzen und Risiken verschrieben werden. Martin Huber: „Schauen wir uns die bisherigen Anwendungsbeschränkungen an, wird klar, dass viele auf die Behandlung der letzten Wahl bei Patientinnen und Patienten abzielen. Das bedeutet, es darf keine alternativen therapeutischen Optionen mehr geben. Die vergleichsweise hohen Verordnungszahlen legen allerdings nahe, dass Fluorchinolone noch zu häufig darüber hinaus zum Einsatz kommen.“
Daher beschloss der PRAC, die eingeführten Maßnahmen zur Risikominimierung durch eine Arzneimittelanwendungsstudie auszuwerten. Die Studie schloss Daten aus sechs europäischen Ländern – darunter Deutschland – ein und kam zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Verschreibungen leicht rückläufig ist. Zwar ist die Interpretation der Daten aus der Arzneimittelanwendungsstudie mit Einschränkungen verbunden, allerdings deckt sich die beobachtete Tendenz zum Rückgang der Verschreibungen in Deutschland mit deren verfügbaren Daten, wie beispielsweise dem Arzneiverordnungs-Report.
Überwachung nach der Zulassung
Insbesondere im Zeitraum, der mit dem Beginn des Risikobewertungsverfahrens und den daraus resultierenden Maßnahmen übereinstimmt, zeichnet sich für Deutschland ein signifikanter Rückgang ab. „Damit können wir uns aber nicht zufriedengeben“, so Martin Huber. „Denn die Studie zeigt gleichzeitig, dass Fluorchinolone noch immer außerhalb ihrer empfohlenen Anwendungsgebiete verschrieben werden.“
Vor diesem Hintergrund empfahl der PRAC im Frühjahr 2023 einen erneuten Rote-Hand-Brief, um nochmals auf die Anwendungsbeschränkungen und die schwerwiegenden Nebenwirkungen aufmerksam zu machen.
Die Fluorchinolone sind ein gutes Beispiel dafür, wie streng Arzneimittel auch nach der Zulassung überwacht werden. Gleichzeitig sollte der aktuelle wissenschaftliche Stand lückenlos im Verordnungsverhalten berücksichtigt werden. „Die Verordnung eines Arzneimittels – in diesem Falle eines Antibiotikums – ist eine Entscheidung des ärztlichen Fachpersonals für eine bestimmte Patientin oder einen Patienten“, betont Martin Huber. „Anwendungsrisiken müssen daher immer individuell besprochen werden. Das BfArM wird hier auch weiterhin seine Expertise einbringen, damit das Wissen über Arzneimittelrisiken wächst und Patientinnen und Patienten optimal und sicher behandelt werden können.“
Dr. Martin Huber
Studium der Pharmazie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie Aufbaustudiengang Gesundheitswissenschaften – Public Health an der Technischen Universität Dresden. Zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter u. a. im Krankenhaus. 2010 Wechsel ins BfArM in die Abteilung Pharmakovigilanz. Schon früh Engagement in den Arbeitsgruppen und Gremien auf europäischer Ebene. Seit 2012 Mitglied im PRAC. Seit 2018 stellvertretender Vorsitzender dieses Gremiums.