Das weite und hochdynamische Feld der Medizinprodukte ist geprägt von Technologiesprüngen und Innovationen. Dem gegenüber stehen Prozesse beim Marktzugang und in der Risikobewertung, die wesentlich auf manuell erstellten Tabellen und Texten beruhen – der Gegensatz könnte kaum größer sein. Um die Lücke zwischen dynamischer Technologiewelt und der aktuellen Bewertungsrealität zu schließen, bringt das BfArM sein Know-how der Risikobearbeitung und -bewertung von Medizinprodukten gezielt in zukunftsweisende Initiativen ein. Mit eigener Forschung zu datengestützter Risikosignalerkennung und -bewertung nimmt das Bundesinstitut eine Vorreiterrolle unter den europäischen Behörden ein.
Schon jetzt zeichnet sich in Ansätzen ab, wo die Digitalisierung die Patientenversorgung revolutionieren wird: Produkte gehen immer individueller auf ihre Zielgruppe ein, digitale Helfer für Smartphone und Co. begleiten im Alltag, während die Kommunikation unter den Produkten wächst. „Medizinprodukte werden zunehmend smarter und vernetzter“, hält Dr. Samet Bayraktar aus der Abteilung Medizinprodukte fest. „Je anspruchsvoller sie werden, umso komplexer sind sie auch. Das betrifft den gesamten Lebenszyklus von der Entwicklung über die Zertifizierung bis hin zu Marktzugang, Risikomeldungsbewertung und Überwachung. Damit wachsen die Herausforderungen für alle beteiligten Akteure.“ Herstellerinformationen und Dokumentationen umfassen in der Regel etliche Seiten Text, Hunderte von Tabellenzeilen und unzählige Verweise. Das bis ins Detail zu prüfen, ist zeit- und arbeitsintensiv.
Medizinprodukte werden zunehmend smarter und vernetzter.
Dr. Samet Bayraktar, Data Scientist in der Abteilung für Medizinprodukte, Fachgebiet Forschung, Datenmanagement, Analytics
Zusammen mit seinem Kollegen Dr. Davood Moghadas arbeitet Bayraktar als Data Scientist im BfArM. Ihre Mission: Daten strukturiert aufbereiten, Schnittstellen zwischen den Prozessen ermöglichen und Grundlagen für unterstützende IT-Werkzeuge schaffen. Hierzu ist das BfArM unter anderem in zwei Forschungsinitiativen eingebunden: KI-assistierte Zertifizierung medizinischer Software (KIMEDS) und Secure Medical Microsystems and Communications (SEMECO). Beide Projekte profitieren von der regulatorischen Expertise und Datenvielfalt, über die das BfArM zu Vorkommnismeldungen bei Medizinprodukten verfügt. Diesen Wissensschatz strukturiert zugänglich zu machen, da sind sich die Datenwissenschaftler des BfArM einig, käme Entwicklern, Zertifizierungsstellen, der Risikoüberwachung, vor allem aber auch Patientinnen und Patienten zugute.
Verfahren beschleunigen, Sicherheit erhöhen
Mehr als 35.000 Risikomeldungen zu Medizinprodukten gehen jährlich beim BfArM ein – Tendenz steigend. Die Assessorinnen und Assessoren müssen in all diesen Fällen in der Lage sein, sich schnellstmöglich einen umfassenden Überblick über das Problem und mögliche Ursachen zu verschaffen, um fundierte Entscheidungen zu ggf. erforderlichen Maßnahmen im Sinne der Patientensicherheit treffen zu können. Je umfangreicher die Sicherheitsdokumentationen werden, desto größer ist das Risiko, dass relevante Sicherheitsprobleme übersehen werden könnten. „Im Projekt KIMEDS verfolgen wir daher, vereinfacht gesagt, den Ansatz, Herstellerunterlagen zu Sicherheitsaspekten mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) prüfen zu können“, erklärt Davood Moghadas. „Das kann die Bewertung beschleunigen und gleichzeitig die Prüftiefe erhöhen.“
Das BfArM setzt dabei auf Data- und Text-Mining. Hierbei werden statistische Methoden auf die weitläufigen Datenbestände angewendet. Davood Moghadas: „Ziel ist es, unsere Einzelfälle in ein Netzwerk an Informationen mit logischen Beziehungen zu überführen. So erkennen wir Muster und Trends, die uns bei der regulatorischen Arbeit helfen. Mit einem solch zugänglichen Wissenspool können wir neu gemeldete Vorkommnisse noch schneller und besser analysieren. Gleichzeitig lassen sich auch im Vorfeld Schwachstellen und potenzielle Fehlerquellen gezielter ausmachen – beispielsweise innerhalb klinischer Prüfungen.“
Die Vision von KIMEDS: ein durch künstliche Intelligenz gestütztes Verfahren über den gesamten Lebenszyklus eines Medizinproduktes hinweg. Entwicklern wird es durch besser strukturierte Prozesse den Marktzugang erleichtern, während Zertifizierungsstellen, Überwachungsbehörden und auch das BfArM schneller, detaillierter und gezielter analysieren und bewerten können. Patientinnen und Patienten profitieren gleich doppelt. „Zum einen sind neue, innovative Produkte schneller auf dem Markt verfügbar, zum anderen verbessern die datengestützten Verfahren die Sicherheit“, führt Moghadas aus.
KIMEDS setzt zunächst auf medizinische Software von Röntgenanlagen und Endoskopen. Perspektivisch haben KI-gestützte Nachweise aber das Potenzial, positiven Einfluss auf die gesamte Medizinprodukte-Branche zu nehmen.
Mehr als 35.000 Risikomeldungen zu Medizinprodukten gehen jährlich beim BfArM ein – Tendenz steigend.
Dr. Davood Moghadas, Data Scientist in der Abteilung für Medizinprodukte, Fachgebiet Forschung, Datenmanagement, Analytics
Zertifizierung trifft Cybersicherheit
Wie wertvoll strukturiertes Wissen werden kann, zeigt sich spätestens dann, wenn die medizintechnische Bewertung im Zusammenhang mit Cybersicherheit erfolgt. Hier kommt das Projekt SEMECO ins Spiel, das die Wissensmodellierung bzw. die grundlegenden Methoden von KIMEDS um das Thema Cybersicherheit erweitert. „Wir alle kennen die Medienberichte über Hackerangriffe, die fast ganze Krankenhäuser lahmlegen können“, sagt Samet Bayraktar. Natürlich bedeuten mehr Kommunikation und Vernetzung auch bei Medizinprodukten und ihren Komponenten eine größere Angriffsfläche. Einerseits ist funktionale Flexibilität gewünscht, andererseits wird es immer schwieriger und zeitaufwendiger, einen formalen Nachweis für die Sicherheit zu erbringen. „Hersteller müssen sich bei der Entwicklung sehr tief einarbeiten und auch Bereiche außerhalb ihrer eigenen Kernkompetenz abdecken“, schildert Bayraktar das Problem. Das Projekt SEMECO widmet sich daher medizinischen Mikrosystemen und sucht nach Lösungen, wie sich Systementwicklung und Sicherheitsdokumentation in Einklang bringen lassen.
Vielfalt strukturieren
Ziel ist es, durch einen modularen Systementwurf, modulare Plattformen und modulare Regulatorik ein neues Ökosystem zu schaffen. Samet Bayraktar: „In dem Projekt wollen wir gemeinsam mit den anderen Projektpartnern aus Forschung, Regulation und Industrie sozusagen einen Baukasten entwickeln, der über skalierbare Wissenssysteme und erklärbare künstliche Intelligenz Standards für die regulatorische Dokumentation gewährleistet.“ Derzeit weisen Elektronikschaltungsentwürfe und Chipdesign eine geringe Standardisierung und hohe Vielfalt auf. Da alle medizinischen Mikrosysteme softwaregesteuert sind, liegt es nahe, die Sicherheitsdokumentation bereits auf Ebene der Systemsoftware zu integrieren.
Strukturiertes Wissen nimmt auch hier eine Schlüsselstellung ein. Als regulatorischer Akteur identifiziert das BfArM Fälle in seiner Vorkommnisdatenbank, die mit Cybersecurity zu tun haben. „Von der Infusionspumpe bis hin zum Herzschrittmacher haben wir viele Anwendungsfälle, für die das Thema relevant sein kann. Wir wollen uns ein möglichst lückenloses Bild verschaffen, um auch hier Muster und logische Beziehungen herauszufiltern“, sagt Bayraktar. Wie bei KIMEDS stellt dieses strukturierte Wissen einen Erfahrungsschatz dar, der dabei hilft, potenzielle Schwachstellen im Vorfeld zu identifizieren und erkannte Probleme besser einordnen und lösen zu können.
Damit die Forschungsvorhaben auch nachhaltige Wirkung entfalten, trägt das BfArM die Ansätze in die europäischen Gremien zu Medizinprodukte-Vigilanz und zu klinischen Prüfungen sowie in die Mitte des International Medical Devices Regulators Forum (IMDRF). Dieses Engagement über Ländergrenzen hinweg ist wichtig, da Entwickler und Hersteller meist auf dem Weltmarkt zu Hause sind. Das BfArM macht sich daher für eine europäische und internationale Standardisierung stark. Zudem geht es ohnehin um ein globales Interesse: Die traditionellen Verfahren, für die bildlich die alten Fallakten stehen, müssen an die extrem dynamischen Entwicklungen der Produkte angepasst werden. Denn mit dem hohen Tempo, das der technologische Fortschritt vorgibt und verlangt, laufen Akteure wie die Regulierungsbehörden ansonsten Gefahr, ihre Handlungsfähigkeit zu verlieren.
Die beiden Datenwissenschaftler Bayraktar und Moghadas sind daher überzeugt: „Wir müssen dieses Tempo aufnehmen und selbst Innovationstreiber sein.“ Mit KIMEDS und SEMECO nimmt das BfArM genau diese Vorreiterrolle ein und nutzt die Möglichkeiten, wie der technologische Fortschritt mithilfe seiner eigenen Errungenschaften beherrschbar bleibt.
Dr. Samet Bayraktar
Studium der Biochemie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) mit anschließender Promotion in Münster. Ab 2015 unterschiedliche Stationen im Universitätsklinikum Münster mit Ausbildung eines Schwerpunktes in Machine Learning und Künstlicher Intelligenz. Seit 2021 im BfArM tätig als Data Scientist in der Abteilung Medizinprodukte, Fachgebiet Forschung, Datenmanagement, Analytics.
Dr. Davood Moghadas
Studium der Geophysik an der Universität Teheran (Iran). Promotion am Forschungszentrum Jülich (FZJ) in Zusammenarbeit mit der Université catholique de Louvain (UCLouvain, Belgien). Zuletzt als Dozent und Datenmanager an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) tätig, lag sein Schwerpunkt ebenfalls auf Machine Learning und Künstlicher Intelligenz. Seit 2021 im BfArM als Data Scientist in der Abteilung für Medizinprodukte, Fachgebiet Forschung, Datenmanagement, Analytics.