Es gibt in Deutschland keine genauen Daten darüber, wie viele Menschen an einer „Seltenen Erkrankung“ leiden. Schätzungen gehen von rund vier Millionen Menschen aus. Die genaue Zahl bleibt unbekannt, weil für viele dieser Erkrankungen keine genaue Kodierung im Gesundheitssystem möglich ist. Ein Problem mit weitreichenden Folgen: Ohne genaue Daten fehlt der Gesundheitspolitik eine wichtige Entscheidungsgrundlage. Das BfArM will das ändern – unter anderem, um damit Forschung und neue Therapien zu ermöglichen.
Das Problem liegt im System. Genauer gesagt, im medizinischen Kodiersystem. Darin werden Krankheiten mit einem Buchstabenkode abgebildet, „Internationale Klassifikation der Krankheiten“ genannt, ICD abgekürzt und auf der ganzen Welt im Gebrauch. Anhand dieses Kodes kann zum Beispiel die Krankenkasse nachvollziehen, wie häufig bestimmte Krankheiten auftreten, welche Therapien verordnet werden und vor allem: was die Behandlungen kosten. Die Kodierung einer Erkrankung ist also eine wichtige Entscheidungsgrundlage für die Gesundheitspolitik.
Kein eindeutiger ICD-Kode
Was passiert aber, wenn eine Krankheit keinem ICD-Kode eindeutig zugewiesen werden kann? „Dann bleiben die Betroffenen in diesem System buchstäblich unsichtbar“, erklärt Carina Thomas. Die Medizinerin arbeitet in der Abteilung „Kodiersysteme und Register“ des BfArM.
Das Bundesinstitut ist als eines der WHO-Kooperationszentren an der Pflege und Weiterentwicklung der ICD-Kodes beteiligt. Das Kodierungssystem hat seit seiner Einführung durch die WHO im Jahr 1983 schon einige Revisionen hinter sich. Gerade befindet sich die elfte Version, also die „ICD-11“, in der Einführungsphase.
Diese fortlaufenden Erweiterungen und Überarbeitungen sorgen unter anderem dafür, dass Erkrankungen differenzierter als bisher verschlüsselt werden. Denn wenn Kodes zahlreiche unterschiedliche Erkrankungen umfassen, ist die spezifische Identifikation einer einzelnen Krankheit nicht möglich. Diese Differenzierungen sind auch für Menschen entscheidend, die an einer Seltenen Erkrankung leiden. „Aktuell sind rund 6.000 bis 8.000 solcher Erkrankungen bekannt“, erklärt Thomas. „Aber die ICD gibt nur für etwa 500 davon einen spezifischen Kode vor. Die übrigen werden mit Kodes verschlüsselt, denen gleichzeitig noch weitere, häufiger vorkommende Erkrankungen zugeordnet sind.“
Für die Betroffenen ist das ein Problem. Denn von der Versorgungsforschung bis hin zur Planung klinischer Studien und damit der Entwicklung neuer Therapien sind genaue Diagnose-Informationen hochrelevant. Auch Informationen, die den Alltag der Patientinnen und Patienten erleichtern sollen, benötigen eine eindeutige Zuordnung. Ein weiteres Beispiel ist die Versorgung: Durch die lückenhaften Daten kann man nur schlecht nachvollziehen, wo Seltene Erkrankungen besonders häufig behandelt werden und demnach eine besondere Expertise für die Therapie vorhanden ist.
Seltene Erkrankungen im Kodiersystem sichtbar machen
6.000 bis 8.000
Seltene Erkrankungen sind bekannt.
In der internationalen Referenzdatenbank Orphanet werden mittlerweile mehr als 6.000 Seltene Erkrankungen erfasst, die alle ihren eigenen ORPHAcode besitzen.
Nur für 500
Seltene Erkrankungen gibt es einen spezifischen ICD Kode.
Die übrigen Seltenen Erkrankungen werden mit Kodes verschlüsselt, denen gleichzeitig noch weitere, häufiger vorkommende Erkrankungen zugeordnet sind.
Orphanet erfasst Seltene Erkrankungen
Um also alle Seltenen Erkrankungen in Kodiersystemen sichtbar zu machen, wird in Europa die Verwendung der sogenannten ORPHAcodes von Orphanet empfohlen. Bei Orphanet handelt es sich um eine internationale Referenzdatenbank, die über Seltene Erkrankungen und deren Behandlung mit entsprechenden Arzneimitteln (Orphan Drugs) informiert. Mittlerweile erfasst Orphanet mehr als 6.000 Seltene Erkrankungen, die alle ihren eigenen ORPHAcode besitzen.
Der ORPHAcode muss jedoch zusätzlich zur obligatorischen ICD-Kodierung angewandt werden. Dabei kann es vorkommen, dass eine Krankheit mit einem bestimmten ICD-Kode mehrere ORPHAcodes hat und umgekehrt. Wegen dieser Faktoren und des Mehraufwands durch die Anwendung von zwei Systemen wurde das nationale Projekt „Kodierung von Seltenen Erkrankungen“ initiiert. Ziel war es, ICD-10-Kodes und Orpha-Kennnummern zu verknüpfen. Dazu wurden beide Systeme in einer gemeinsamen Datei bereitgestellt, die „Alpha-ID-SE“ genannt wird. Bei der Anwendung können durch die einmalige Auswahl des Krankheitsnamens beide Kodes angegeben werden.
Das nationale Orphanet-Team
Das BfArM ist seit 2021 Partner des Projekts Orphanet und Carina Thomas Teil des nationalen Orphanet-Teams. Sie arbeitet hier an der Implementierung der Alpha-ID-SE in das Gesundheitssystem. Dazu gehört die Pflege und Bereitstellung der jährlich aktualisierten Version dieser Datei. Um die Nutzung voranzutreiben, werden von dem BfArM-Team auch Schulungen, Vorträge und Webinare angeboten. Darüber hinaus sammeln die Mitarbeitenden Daten zu verfügbaren spezialisierten Leistungen wie Expertenzentren, Medizinischen Laboren mit Testangeboten, laufenden Forschungsprojekten, klinischen Studien, Patientenregistern und Patientenorganisationen. Sie werden in die Orphanet-Datenbank eingepflegt und sind dann über die zentrale Website abrufbar.
„Wir tauschen uns bei unserer Arbeit auf nationaler Ebene eng mit Interessenvertretungen aus und sind an zahlreichen EU-Projekten beteiligt“, berichtet Thomas. „Gemeinsam arbeiten wir daran, die Sichtbarkeit von Seltenen Erkrankungen im Gesundheitssystem zu verbessern.“
Gemeinsam arbeiten wir daran, die Sichtbarkeit von Seltenen Erkrankungen im Gesundheitssystem zu verbessern.
Carina Thomas, Kommissarische Fachgebietsleiterin des Fachgebietes K4
Vollständige Daten können Leben retten
Seit 2023 ist die eindeutige Kodierung von Seltenen Erkrankungen mithilfe der Alpha-ID-SE in Krankenhäusern verbindlich vorgegeben. Diese Daten werden dann in das Forschungsdatenzentrum fließen und für Forschungsfragen zur Verfügung stehen. Perspektivisch könnte die Kodierung auch im ambulanten Bereich sinnvoll sein. Auch als Marker in der elektronischen Patientenakte könnten die ORPHAcodes genutzt werden, z. B. um den Anwendenden spezifische Hinweise zur Therapie bei den Seltenen Erkrankungsbildern zu geben.
„Die vollständigen Daten und Algorithmen können Leben retten und zu einer besseren Lebensqualität beitragen“, betont Carina Thomas. „Dazu braucht es weitere Anreize in der Arzneimittelforschung und der Digitalisierung der medizinischen Einrichtungen. Das gemeinsame Ziel ist es, die dazugehörigen digitalen Gesundheitsstrukturen zu schaffen – und unsere Arbeit an den Kodiersystemen ist dabei ein wichtiger Baustein.“
Carina Thomas
Studium der Humanmedizin Johannes-Gutenberg-Universität Mainz & Universität zu Köln 2002 – 2009. Ärztliche Tätigkeit in der Allgemein- & Viszeralchirurgie Klinikum Leverkusen und Marien-Krankenhaus Bergisch Gladbach 2010 – 2021. Beginn der Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet K4/ Orphanet Deutschland 12/2021. Stellvertretende Fachgebietsleiterin des Fachgebietes K4 06/2022. Kommissarische Fachgebietsleiterin des Fachgebietes K4 06/23.