BfArM - Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte

Den Blick für bessere Arzneimittel weiten

Zehn Partnerinstitutionen aus Europa sind an dem Projekt Real4Reg beteiligt, das von Dr. Silja Wortberg für das BfArM koordiniert wird. Mit großen Datenmengen aus dem Gesundheits­wesen und künstlicher Intelligenz sollen regulatorische Prozesse verbessert werden.

Jeden Tag entsteht eine sehr große Menge an Daten in der medizinischen Versorgung, wie beispielsweise Abrechnungsdaten der Krankenkassen, Daten aus Registern (zum Beispiel den Krebsregistern der Bundesländer) oder auch Daten aus elektronischen Gesundheitsakten. Diese sogenannten Real-World-Daten (RWD) bieten auch große Chancen für regulatorische Entscheidungsfindungen. Als Goldstandard gelten Randomisierte kontrollierte Studien (RCT), um die Wirksamkeit eines neuen Arzneimittels zu belegen und die Zulassung des Produktes zu erlangen. Doch diese Studien haben auch Nachteile, da die Studiensituation nicht die Realität abbildet. So sind die Studienteilnehmer meist junge, gesunde Männer, was die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Bevölkerungsgruppen wie ältere Menschen, Frauen jeden Alters und Kinder erschwert. Darüber hinaus können klinische Studien aus ethischen Gründen nur schwer an Bevölkerungsgruppen wie Schwangeren oder Kindern durchgeführt werden. Auch sind die notwendigen großen Fallzahlen für RCTs für Menschen mit Seltenen Erkrankungen sehr schwierig zu erreichen.

Regulatorische Prozesse verbessern

Deswegen sind RWD eine große Chance, denn sie bilden die Realität des Behandlungsalltags der Bevölkerung ab. Zu Beginn des Jahres 2023 startete das von der Forschungsabteilung des BfArM initiierte und koordinierte Forschungsprojekt Real4Reg, das von der Europäischen Union (Programm Horizone Europe) gefördert wird. Ziel des Projektes ist es, regulatorische Prozesse in den Behörden mit RWD zu verbessern. So sollen Regulierungs- und Gesundheitstechnologiebewertungsbehörden (HTA-Behörden) optimierte Methoden für die wirksame Nutzung von RWD zur Bewertung von Arzneimitteln zur Verfügung gestellt werden. „Wir weiten so den Blick der Regulatorinnen und Regulatoren über die klinischen Studien hinaus“, erklärt Silja Wortberg das Projekt. Hierfür sollen die Abrechnungsdaten der Krankenkassen sowie Daten von nationalen Registern genutzt werden. Ein weiteres Ziel des Projektes ist die Weiterentwicklung von Methoden für die geeignete Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI) auf RWD-Quellen im Kontext der Regulation und Gesundheitstechnologiebewertung (HTA). Um die riesigen Datenmengen bewältigen zu können, soll künstliche Intelligenz bei der Analyse und Auswertung eingesetzt werden, so dass Muster und Vorhersagemodelle erkennbar werden. Neben klassischen statistischen Methoden sowie Propensity-Score-Algorithmen wird daher auch ein breites Spektrum an KI-Algorithmen und -Methoden angewandt.

Erste Herausforderungen

Am Projekt beteiligt sind neben dem BfArM als Koordinator auch neun Organisationen aus sechs europäischen Ländern. Darunter sind HTA-Behörden, akademische Einrichtungen und Patientenorganisationen. Zu Beginn des Projektes berichtet Wortberg: „Unsere erste Herausforderung sind gemeinsame Standards, damit die Daten aus den unterschiedlichen Ländern überhaupt als Datengrundlage genutzt werden können.“ Koordiniert vom BfArM sollen die Daten der europäischen Partnerländer in ein gemeinsames Datenmodell konvertiert werden, damit sie für die gemeinsame Auswertung genutzt werden können. „Auch für die weitere Zusammenarbeit im Rahmen des European Health Data Space (EHDS) oder DARWIN EU sind diese Arbeiten eine ganz wichtige Grundlage“, erklärt Wortberg.

Eine riesige Datengrundlage

Für das Projekt sollen in Deutschland unter anderem Daten vom Forschungsdatenzentrum Gesundheit genutzt werden. Dieses wird derzeit am BfArM aufgebaut. Es erhält die vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-SV) gesammelten und qualitätsgesicherten Daten aller rund 73 Millionen gesetzlich Krankenversicherten in pseudonymisierter Form und kann diese dann auf Antrag für Zwecke der Forschung und Verbesserung der Gesundheitsversorgung anonymisiert oder pseudonymisiert bereitstellen. Um den Schutz der Daten zu gewährleisten, werden im Projekt Real4Reg die Daten nicht zwischen den aus unterschiedlichen Ländern stammenden Organisationen ausgetauscht.

Letztlich soll die Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimitteln erhöht werden.

Dr. Silja Wortberg, Projektkoordinatorin Real4Reg

Themen des Projektes

Im Projekt Real4Reg wird zunächst mit vier relevanten Anwendungsbeispielen aus der regulatorischen Praxis entlang des Produktlebenszyklus von Arzneimitteln gearbeitet: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Brustkrebs, SGLT2-Inhibitoren und Fluorchinolone. Anhand der Anwendungsbeispiele wird die Verwendung von RWD zur Beschreibung von Studienpopulationen, die Verwendung von historischen Kontrollen/digitalem Zwilling, die Analyse von RWD zur Bewertung der Arzneimittelsicherheit sowie zur Adressierung von Wirksamkeit und drug repurposing untersucht.

Zusätzlich zur Anwendung von klassischen Auswertungsmethoden werden von dem Projektpartner Fraunhofer-Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen (SCAI) und dem CSC Finland KI-Algorithmen und -Methoden entwickelt, deren Nutzen für regulatorische Entscheidungen in diesen Themenbereichen genutzt werden können. Funktioniert dies, können die Skripte perspektivisch auf andere Themenbereiche und Anwendungsbeispiele übertragen werden.

Im Projekt werden weiterhin Strategien erarbeitet, wie diese neuen Ansätze in den Regulierungs- und HTA-Behörden in Europa eingeführt werden können. Wortberg erklärt: „Die Struktur und der Ansatz unseres Projekts zielen darauf ab, die Implementierung der effektiven Nutzung von Daten aus der ‚realen Welt‘ außerhalb von klinischen Studien bei der Entscheidungsfindung im Rahmen der Regulierung und HTA-Bewertung zu erleichtern.“ Zu diesem Zweck wird im Rahmen des Projektes ein Survey durchgeführt, der die Bedarfe und Wünsche der relevanten europäischen Stakeholder erfragt, um die Ergebnisse des Projektes in zielgenaue Schulungsmaßnahmen zu überführen.

Über den aktuellen Stand des Projektes informieren die Beteiligten laufend auf der Internetseite real4reg.eu. Erste Ergebnisse sollen 2024 publiziert werden, während das Projekt bis Ende 2026 laufen wird. Neben den Schulungsmaßnahmen zur Anwendung von RWD im regulatorischen Kontext sind die Projektergebnisse relevant für bestehende und entstehende Leitlinien für Regulierungsbehörden im Gesundheitswesen und HTA-Behörden in ganz Europa.

Dr. Silja Wortberg

Studium der Medizin, Psychologie und Soziologie. 2006 bis 2012 wissenschaftliche Referentin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) im Bereich Infektionsschutz; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Sucht- und Präventionsforschung (DISuP) sowie an den Universitäten Köln und Witten/Herdecke mit Promotion in Gesundheitswissenschaften. Seit Ende 2021 Forschungskoordinatorin in der Abteilung 5 am BfArM.

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